Die Entscheidung
Als ich mich entschied Tischlerin zu werden, saß ich in einer Maßnahme vom Jobcenter. Das war eine von vielen Bewerbungsmaßnahmen, die ich machen musste weil meine Sachbearbeiterin mir mit Leistungskürzungen drohte. Ich musste mich die ganze Zeit mit sinnlosen Maßnahmen rumschlagen und Bewerbungen schreiben auf Jobs, die ich nicht machen wollte und für die ich auch nicht qualifiziert war. Bevor ich arbeitslos war hatte ich Grafikdesign und Kunst studiert. Während meines Studiums wusste ich schon, dass ich den Beruf nicht machen werde. Als Künstlerin ist es sehr schwer ein gutes regelmäßiges Einkommen zu erzielen und als Grafikdesignerin macht Mensch oft Werbung für Scheiße. Ich wollte weder Werbung für Coca Cola, Nestle oder Mercedes machen noch sexistische Kackscheiße für Media Markt produzieren.
In der Vollzeit-Maßnahme war ich meistens damit beschäftigt anderen Leuten bei ihren Bewerbungen zu helfen oder mich zu langweilen. Bis ich eines Tages auf dem Flur eine zufällige Begegnung mit einer Frau hatte, die Tischlerin ist. Ich kann mich nicht erinnern vorher je einer Frau im Handwerk begegnet zu sein. Wir hatten eine kurze Unterhaltung. Im Nachhinein bin ich überzeugt, dass das einer jener Momente war, welcher mir den Weg ins Handwerk als Option eröffnete. Niemals bin ich zuvor auf die Idee gekommen ins Handwerk zu gehen. Obwohl meine Eltern mich in allen schulischen und beruflichen Entscheidungen unterstützten kam ihnen die Idee auch nie in den Sinn. Als Mädchen oder Frau wird es einem eben nicht so selbstverständlich nahe gelegt einen handwerklichen Beruf zu erlernen… Das Handwerk ist für Frauen oft keine gute Entscheidung und ich bin richtig froh, dass das was mir passiert ist, mir nicht mit 16 passiert ist. Denn dann wäre ich mit Sicherheit heute nicht Tischlerin.
Die Bewerbung(en)
Am Anfang bewarb ich mich bei Tischlereien in ganz Hamburg wie ich es gelernt habe in der Schule, dem Studium und den etlichen Maßnahmen. Ordentlich mit Bewerbungsmappe oder per Mail, alle Zeugnisse und Lebenslauf im Anhang oder als Kopie beigelegt. Ich versuchte im Bewerbungsschreiben immer auf etwas einzugehen bezüglich der Firma. Wenn nicht ersichtlich war wer Ansprechpartner*in ist rief ich vorher an. Irgendwann schickte ich nur noch eine schriftliche Bewerbung raus wenn ich vorher in einem Telefonat heraus fand ob die Firma aktuell überhaupt ausbildet. Nach vielen Telefonaten habe ich dann auch verstanden, dass ich in die Betriebe gehen muss. Ich bin dann irgendwann nur noch mit Lebenslauf zu den Firmen hingegangen, habe mich persönlich vorgestellt und meine Unterlagen abgegeben.
Was ich im Bezug auf Bewerbungen mittlerweile weiß und oft gehört habe ist:
„Im Handwerk musst du Hände schütteln.“
Das heißt: Du musst hingehen, dich persönlich vorstellen und im besten Fall einen ausgedruckten aktuellen Lebenslauf dabei haben. Bewerbungsschreiben wollten die Wenigsten von mir haben. Irgendwann versuchte ich heraus zu finden wie oft ich mich beworben hatte und zählte 140 Bewerbungen. Insgesamt gab es 3 Rückmeldungen. Eine Absage von der Staatsoper und eine Absage von einer Firma, die ein paar Tage später das Gesuch auf das ich mich beworben hatte aktualisierten.
Das Berufsgrundbildungsjahr
Die dritte Rückmeldung war eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, welches zwischen Hobelbank und Maschinen geführt wurde. Das fand ich noch sympathisch und war guter Dinge. Ich bekam eine Zusage. Wegen des Mangels an Auswahl und meiner Ahnungslosigkeit nahm ich das Angebot an. Es begann mit einem 2-monatigem Praktikum. In dem Betrieb war ich mit dem Chef meistens alleine weil der andere Auszubildende in der Berufsschule war. Mit Beiden habe ich mich nicht gut verstanden.
Der Chef wollte, dass ich ein BGJ in einem anderen Bundesland mache, obwohl er mich auch nach Hamburg zur Berufsschule hätte schicken können. Das Berufsgrundbildungsjahr findet in der Schule statt und ist in manchen Bundesländern Pflicht, gehört zur Ausbildung und wird als erstes Ausbildungsjahr angerechnet. Der schulische Teil einer Ausbildung ist immer ungefähr 1/3 der gesamten Ausbildung. In Hamburg kann das BGJ auch angerechnet werden, aber die Ausbildung läuft hier nach einem anderen Konzept. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen Ausbildungsformen ist, dass du kein Ausbildungsgehalt im BGJ bekommst. Das hieß für mich: Keine Ausbildungsvergütung im kompletten ersten Ausbildungsjahr. Im Prinzip eine Grauzone, eine Möglichkeit für Arbeitgeber sich den Großteil der „Kosten“ zu sparen für die Zeit, die ein Azubi in jedem Fall in der Schule verbringt. Ab dem zweiten Lehrjahr hatte ich dann nur noch einmal die Woche Schule.
In den ersten Wochen des BGJs passierte es immer wieder, dass Lehrer*innen und Andere den Kopf durch die Klassentür steckten um zu schauen wer die Person ist, die bei Meister X anfängt…
Hier stimmte etwas nicht und andere wussten es und auch ich hatte wegen des Praktikums eine böse Vorahnung.
Im BGJ erfuhr ich, dass die Praktikumszeiten, die ich vor Beginn des BGJs geleistet hatte, bis auf ein paar wenige Wochen nicht verpflichtend und „freiwillig“ waren. Außer in den Weihnachtsferien war es vorgesehen, dass alle Ferien (Oster-, Sommer- und Herbstferien) im Betrieb verbracht werden. Am Ende des BGJs sollte jede*r Azubi eine gewisse Anzahl an Wochen in dem jeweiligen Ausbildungsbetrieb nachweisen können. Eine Vergütung der Praktikas war ebenfalls nicht vorgesehen. Mein Chef war der Meinung er hätte ja sonst nichts von mir, deshalb musste ich wie im BGJ vorgesehen jede der Ferien arbeiten trotz des schon vorab 2-monatigem geleisteten Praktikums. In diesem Jahr hatte ich genau 2 Wochen „frei“. Wenn die Schule einen Tag ausfiel, wurde der Betrieb informiert und ich musste in den Betrieb.
Die Teilnahme an dem BGJ war grundsätzlich nur möglich mit einem Ausbildungsbetrieb. Die Sicherheit ins zweite Lehrjahr übernommen zu werden gab es nicht, zumindest nicht mit einem „richtigen“ Ausbildungsvertrag. Stattdessen gab es eine rechtlich nicht-bindende Absichtserklärung (siehe Bild). Für manche meiner Klassenkameraden war die Übernahme an eine zu erreichende Mindestleistung gekoppelt.
Das BGJ bedeutete für mich mit weniger als Existenzminimum zu leben. Hartz4 bekam ich nicht, weil ich ja „in Ausbildung“ war. Kein Ausbildungsgehalt, weil ich im BGJ war. BAB wurde mir damals gesagt könne ich nicht beantragen weil ich ja Schülerin (nicht Auszubildende) war. Schüler- und Studentenbafög wurden abgelehnt. Arbeitslosengeld und Wohngeld auch. In den Schulferien arbeiten konnte ich nicht denn da waren ja die unvergüteten Praktikas im Betrieb vorgesehen. Wenn meine Eltern nicht dazu fähig oder bereit gewesen wären mich mit 27 noch zu unterstützen und meine für Hamburg eher niedrige Miete ein Jahr lang zu bezahlen, hätte ich diese Ausbildung gar nicht beginnen können. Fahrtkosten, Schulbücher, Essen und vieles mehr musste ich von meinem aus der Hartz4-Zeit mühevoll ersparten Geld bezahlen. Denn ich war nicht bereit zusätzlich neben der 40 Stunden Woche in der Schule und/oder dem Betrieb, plus Hausaufgaben und Lernzeit, noch Arbeiten zu gehen. Außerdem hatte ich ein Umfeld, das mich „durch gefüttert“ hätte wenn nötig. Aber wer ist schon gerne in so einer Lage? So arm wie zu der Zeit war ich in meinem ganzen Leben noch nie gewesen!
Trotzdem fand ich das BGJ richtig toll! Das lag allerdings hauptsächlich an den beteiligten Personen. Ich hatte eine Lehrerin und zwei Lehrer, die waren beide politisch relativ cool drauf. Und einen großartigen Werkstattleiter und Lehrer für den praktischen Unterricht! Es tut mir richtig Leid für alle nachfolgenden Generationen, die den nicht mehr erleben werden wenn er in Rente geht!
Das Konzept an dieser Schule war: 3 Tage theoretischer Unterricht, 2 Tage praktischer Unterricht. Unterteilt in Lernfelder. Am Beispiel ‚Hobel‘ heißt das, wir haben im theoretischen Unterricht das Werkzeug kennen gelernt, wie alle Teile heißen, wie es funktioniert, welche Unterschiede es gibt. Im Fach Mathe dann die entsprechenden Winkel berechnet. Anschließend im praktischen Unterricht anhand von Proben in Kleingruppen die verschiedenen Hobel ausprobiert und die Ergebnisse ausgewertet. Später unsere eigenen Brettchen verleimt und von Hand plan gehobelt.
Der Ausraster am Kantenschleifer
Während des ganzen BGJs versuchte ich immer wieder in einen anderen Betrieb zu kommen. Leider erfolglos. Deshalb ging die Tortur für mich weiter. Ab dem zweiten Lehrjahr war ich nun 4 Tage die Woche im Betrieb. Es war einfach nur zum Kotzen. Ich hatte mich regelrecht daran gewöhnt angeschrien zu werden.
Einmal wollte ich das Band vom Kantenschleifer wechseln, es ging nicht. Ich bat den Chef mir das (nochmal?) zu zeigen. Er war eh schon genervt, wie immer eigentlich, und bekam es selbst nicht hin den Hebel umzulegen. Dann ist er richtig ausgerastet! Er schlug mit einem Kantholz auf den Hebel der Maschine ein, die abgebrochenen Teile flogen regelrecht durch die Luft. Während dessen schaffte ich es geistesgegenwärtig und rückwärtsgehend den Raum zu wechseln. Zitternd vor Angst und Schock und mit Tränen in den Augen stand ich hinter dem offenen Durchgang im Nebenraum. Ich wollte wegrennen, war aber wie paralysiert. Das war einer von vielen Situationen von denen ich erzählen könnte. Ich wurde massiv ausgebeutet, täglich angeschrien, gemobbt, in Lebensgefahr gebracht durch z.B. einen herunterfallenden Fäustling/Hammer und körperlich bedroht von dem anderen Azubi. Die Meldungen oder Beschwerden darüber beim Chef oder in der Schule änderten daran nichts.
Viele Bewerber*innen bzw. Praktikant*innen sah ich kommen und gehen. Oft sind sie nur 1-3 Tage geblieben. Ungefähr ein halbes Jahr nach Beginn des zweiten Lehrjahrs hielt ich es dort nicht mehr aus. Jeden zweiten Tag ging ich heulend nach Hause.
Mir ging es sehr schlecht und ich ließ mich immer häufiger krank schreiben. Irgendwann hörte ich auf dem Arzt zu erzählen, dass ich Durchfall hätte. Irgendwann sagte ich nur noch, dass ich da nicht hin will. Zum Glück war dieser Arzt qualifiziert genug um zu verstehen, dass es nicht gesund war mich dahin zu schicken. Tatsächlich wurde in der Zeit eine Krankheit bei mir diagnostiziert, die unter anderen Umständen möglicherweise nie aufgetreten wäre. Häufiger Auslöser bzw. Aktivator dieser Krankheit ist Stress. Mein Arzt empfahl mir Stress zu vermeiden und den Betrieb zu wechseln. Haha.
Das selbstorganisierte Mediationsgespräch
Aufgrund der Aussichtslosigkeit den Betrieb zu wechseln, wand ich mich damals an alle möglichen Menschen. In der Schule und teilweise auch in anderen Betrieben war der Betrieb schon lange als „schwierig“ bekannt. Menschen wussten davon und trotzdem konnte oder wollte mir keine*r helfen. Die Gewerkschaft IG Metall schickte mich weg, weil ich noch nicht lange genug Mitglied war. Ich lag dem Lehrlingswart, dem Innungsmeister und der HWK in den Ohren und trat denen immer wieder auf die Füße.
Letztendlich stellte ich mit Hilfe einer externen Arbeits-Beratungsstelle mein eigenes Mediationsgespräch auf die Beine und bereitete es selbst vor! Ich habe die Einladungen zu diesem Gespräch eigenhändig versandt und terminlich organisiert! In der Woche hatte ich mich krank gemeldet. Es gab den Versuch das Gespräch abzusagen wegen angeblichen „fristlosen Kündigungsgründen“. Nicht die HWK oder die anderen Eingeladenen sorgten dafür, dass es trotzdem statt findet. Ich, als Auszubildende, musste darauf bestehen. Eingeladen waren Lehrlingswart, Innungsmeister, die Ausbildungsberaterin der Handwerkskammer, der Ausbilder und ich. Anwesend war natürlich auch die Mediatorin der Beratungsstelle, die auch die einzige erfahrene Person in dieser Runde war. Spätestens in diesem Gespräch wurde mir klar, dass diese Männer es nicht kennen klärende Gespräche zu führen. Sie pflegten ein sehr antiquiertes Redeverhalten. Sie unterbrachen mich ständig, unterbrachen die Mediatorin und sich gegenseitig. Eine Stelle an die ich mich heute schmunzelnd erinnere war als die Frau von der Handwerkskammer, in dem Moment thematisch völlig unpassend, plötzlich von der Führung der Berichtshefte sprach: Diese müssten ja während der Arbeitszeit geführt werden. Drei erwachsene Männer (und Meister), saßen breitbeinig und schnaufend mit verschränkten Armen und roten Köpfen da und waren zu tiefst empört: „Wann sollen die denn dann noch arbeiten?“
Es war ein Drama. Ich ging aus dem Gespräch mit der Vereinbarung, dass ich in dem Betrieb bleibe bis ich einen anderen Betrieb finde und dabei sollte mir die Handwerkskammer helfen. In weiser Voraussicht begann mein Urlaub direkt nach dem Gespräch.
In der Zeit war ich demonstrieren gegen Kohlekraftwerke, als ich den Anruf bekam, ob ich meine Mails schon gelesen hätte. Ich hatte eine fristlose Kündigung bekommen trotz der lang erarbeiteten Vereinbarung nur 13 Tage später und ich war noch nicht mal im Betrieb gewesen. Es wurde an alle beteiligten des Gesprächs geschickt. Das rief nun die Frau von der Ausbildungsberatung der HWK auf den Plan, schließlich hatte sie den Mann nun live erlebt, und sie setzte sich für mich ein und bemühte sich endlich mir zu helfen. Ich bekam zwei Firmen vorgeschlagen, bei denen ich mich sofort bewerben sollte. Da lief ich mitten im nirgendwo auf einem Acker auf und ab und führte Bewerbungsgespräche am Telefon.
Von beiden Betrieben habe ich die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch bekommen. Der Chef der ersten Firma lehnte ab. Aber erst nachdem er durch wiederholtes Fragen und Drängen die Information aus mir heraus presste, dass ich ein Problem mit dem Chef hatte. Das sollte dann auch der Ablehnungsgrund sein, denn wenn ich mich mit dem Chef nicht verstanden hätte, würde ich bei denen auch nicht zurecht kommen.
Der Wechsel
Bei der zweiten Firma war das Gespräch sehr viel entspannter, auch hier wollte der Chef unbedingt die Gründe kennen und stellte mir Fragen. Als er feststellte, dass ich mit Meister X meistens auch noch alleine war, war die Reaktion dieses Chefs: „Ja, das kann ja nicht gut gehen!“ Damit war das Thema dann erledigt, es wurde ein Vertrag aufgesetzt und ich konnte die zweite Hälfte meiner Ausbildung in Ruhe angehen.
Hier hatte ich nun ganz viele Kollegen und auch Kolleginnen (nicht nur im Büro) um mich. Das war eine völlig neue Erfahrung! Natürlich wollten alle meine Geschichte hören und warnten mich im Anschluss gleich: „Oh warte bis du Wolfgang kennen lernst!“ Das war der Werkstattmeister dieser Firma. Dieser ist ebenfalls bekannt dafür laut und ausfallend zu werden. Auch davon würde ich nicht verschont bleiben und das erste Mal als dieser loslegte, mich einmal deftig zusammen faltete und noch 1-2 Minuten weiter schimpfte, ging ich danach zu meinem Kollegen und sagte: „Und das habe ich 50 Minuten am Stück ausgehalten. Wolfgang ist ein Kätzchen im Vergleich!“ Das Verhalten dieses Meisters ist natürlich überhaupt nicht in Ordnung, jedoch war ich eben so viel schlimmeres gewöhnt, dass das absolut aus haltbar geworden war. Spätestens seitdem heißen diese Männer für mich auch alle nur noch >>Schreimeister<<.
Mittlerweile schreie ich gelegentlich mal zurück. Ihre eigene Medizin mögen sie gar nicht gerne. Ich sehe nicht ein „darüber stehen“ zu müssen noch mich so behandeln lassen zu müssen. Im Prinzip bin ich auch sehr nachtragend geworden. Wenn sich eine solche Person nicht explizit entschuldigt, behandele ich ihn genauso oder führe ihn anhand seines eigenen Verhaltens vor. Oder ich wende ein Vorgehen an, dass ich auch bisher nur von weißen, meist alten Männern aus dem Handwerk kenne: Ich rede nicht mehr mit ihnen.
Nun hatte ich wegen der entstandenen Krankheit immer noch Probleme. Es ging so weit, dass ich sogar operiert werden musste. In dieser Firma hörte es relativ schlagartig auf, dass ich mich wegen „Stress“ krankschreiben ließ. Trotzdem standen diverse Termine an, unter Anderem wegen der OP, und ich musste schon zu Beginn des Wechsels mehrere Wochen zuhause bleiben. Hier wurde mir das aber nicht zum Vorwurf gemacht.
Das Leid in Leidenschaft
Auf dem Tischler*innen Treffen hatte ich endlich die Gelegenheit mit Menschen darüber zu sprechen, mich auszulassen ohne erklären zu müssen, dass Schreien nicht normal ist oder was warum schrecklich ist und ein bisschen Seelenbalsam zu bekommen. Und das bekam ich auch. Eine Person bedankte sich sogar bei mir, dass ich das durch gezogen habe und viele waren sehr beeindruckt und sprachen mir gut zu oder lobten mich dafür nicht aufgegeben zu haben.
Leider behielt ich ein weiteres gesundheitliches Problem aus diesem ganzen Erlebten. Es tritt in Erscheinung wenn mich Stress tangiert. Es ist mein persönlicher Stress-Indikator geworden. Wenn es da ist, weiß ich das etwas nicht stimmt oder mir etwas große Sorgen macht. Ignorieren und Verdrängen ist nicht mehr drin. Mental war ich das erste Mal in meinem Leben über meine Grenzen gekommen. Aufgeben erwägte ich während der ganzen Zeit immer wieder und bis heute beschäftigt es mich ob ich das hätte tun sollen und ob ich im Handwerk bleibe.
Denn neben meiner Gesundheit ist eine weitere Sache auf der Strecke geblieben durch diese Erfahrungen: Leidenschaft für den Beruf, für das Handwerk an sich, und die Liebe zum Material. Ich wollte ja Möbel gestalten und meine Kreativität ausleben, ich hatte richtig Bock! Heute bin ich weit von dieser romantischen Vorstellung entfernt. Auf eine Art und Weise finde ich das schade, aber ich bin auch voll oke damit.
Durch den Wechsel landete ich unfreiwillig in einer Bautischlerei, meine Priorität war ja erst mal einfach nur die Ausbildung zu Ende zu bringen. So lief ich plötzlich auf „richtigen“ Baustellen herum, arbeitete mit ganz anderen Materialien, hatte ganz andere Aufgaben und mit ganz anderen Leuten zu tun. Ich fand hier einen Platz und fühle mich wohl. Trotz der Umstände, Missstände und dem frühen Aufstehen mache ich den Beruf gerne. Dennoch hasse ich es hart arbeiten zu müssen und die Realität der Arbeit, allgemein im Handwerk aber vor Allem auf dem Bau. Es ist leichter Ausbeutung, Diskriminierung und Ungerechtigkeiten auszuhalten wenn du dich mit Leidenschaft auf deine Arbeit konzentrieren kannst.
Ich brauchte eine lange Zeit um mich von der Ausbildung und Allem zu erholen, aber insgesamt geht es mir wieder ganz gut. Die Leidenschaft, die mich heutzutage antreibt, ist eher politischer Natur. Auf dem Tischler*innen Treffen 2022 fanden sich eine handvoll Personen, die das ‚Azubihilfe Netzwerk‘ gründeten. Einer dieser Personen bin ich.